Liebe Freunde,
liebe Schwestern und Brüder in Christus,
dies ist mein dritter Besuch in dieser alten und berühmten Stadt Aachen.
Die Bedeutung dieser Stadt ist eng mit der Gestalt Karls des Großen verbunden, den man den Vater Europas nennt.
Ich komme aus einem Land und aus einem Milieu, wo alles, was mit Karl dem Großen und mit seinem Werk zusammenhängt, verschwiegen oder bestritten worden ist,
und zwar aufgrund des Nationalismus und später aufgrund der marxistischen-kommunistischen Ideologie.
Bekanntermaßen wird über die Gläubigkeit und die Heiligkeit dieses Herrschers ausgiebig diskutiert.
Manche Episoden aus seinem Leben würden von der heutigen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse sicher nicht gutgeheißen.
Auch wenn ich diese einzelnen Momente seines Lebens nicht eigens erwähne: Es ist wie mit einem historischen Film: Wenn ein solcher Film das Leben Karls des Großen treu nachzeichnen würde, würden viele Zuschauer verlegen wegschauen.
Vielleicht wäre es ein guter Thriller, aber es wäre sehr fraglich, ob er die Gestalt Karls wirklich verstehen hilft.
Wenn es ein Film wäre, der das Leben und Werk Karls begreifen lassen will,
ein Film, der aus der Tiefe den Glauben dieses Menschen zeigen möchte, der ja ein Kind seiner Zeit war, der zeigt, wie in Karl ein neues Europa zur Welt kam,
dieser Film würde zu der Diskussion führen, was historische Tatsächlichkeit und was die Wahrheit dieses Menschen und Herrschers ist.
Ein Skeptiker wird vielleicht fragen: Was ist also die Wahrheit?
Ich möchte mit einem bekannten Spruch antworten: „Vox populi, vox Dei.“ – „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes.“
Über die Heiligen der ersten Jahrhunderte hat die Tradition, das Gedächtnis des Volkes entschieden. Dieses Gedächtnis des Volkes wurde später zum Bewahrer des Werkes, das aus der Herrschaft und den Taten Karls des Großen entstanden ist.
Im Evangelium haben wir über das Licht gehört, das auf einen Leuchter gestellt wird, damit alle, die eintreten, es leuchten sehen.
Auch wir treten in einen Raum unseres Kontinents Europa ein, wenn Karl der Große denjenigen auf den Leuchter stellt, in dessen Licht er herrschen will.
Dieses Licht ist niemand anders als Christus, der Pantokrator, der Weltenherrscher, im himmlischen Jerusalem, zu dem der gekrönte Herrscher von seinem aus den Steinen des Heiligen Grabes in Jerusalem gebauten Thron aufsieht.
Karl der Große lehrt uns den Blick auf das Licht Christi, das die Welt hell machen möchte, so wie die Lichter auf dem Barbarossaleuchter das Oktogon dieses Domes beleuchten.
Bei dieser Aufgabe ist Karl nicht allein.
Neben ihm steht ein außerordentlicher und gelehrter Mann, der aus England stammt, der Diakon Alkuin. Die Bedeutung dieses Mannes ist unschätzbar. Ich sehe hier eine Ähnlichkeit mit Karl dem IV. und dem ersten Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz.
Es ist kein Zufall, dass wir als erste Lesung einen Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach gehört haben. Es ist eine Ode an die Weisheit und an die Bildung.
Aus ihnen erwächst eine Freude, wie sie das Kind auf Armen seiner Mutter erlebt und der Mann in den Armen seiner Frau.
Das gemeinsame Werk dieser beiden Männer - das Oktogon des Aachener Doms, wo wir die heutige Liturgie feiern, und die von Alkuin geführte Akademie, deutet den zukünftigen Grund der christlichen Zivilisation an, die wir die westliche Zivilisation nennen.
Diese Zivilisation ist dann später, im 13. Jahrhundert, in dem Jahrhundert der Kathedralen und Universitäten, entstanden. Aber das war nur deshalb möglich, weil die Bibel (Vulgata) fest erfasst wurde und die antike Bildung respektiert wurde. Das Europa der Klöster ist ein Werk des heiligen Benedikt und der Iroschotten, wie eben des Abtes Alkuin aus der Benediktinerabtei St. Martin zu Tours.
Ich finde die Worte von Jacques Le Goff genial. Sie sollten zur Legenda aurea unserer Tage werden, und zu einer Grundlage für die nötige Reform der Europäischen Union.
Nach seinen Worten hat die Taufe des neuen Europa ihre Vorläuferin in der Taufe des Frankenkönigs Chlodwig. Und dieses Europa wurde durch das Werk Karls des Großen bestätigt, wir können auch sagen: gefirmt.
Diese Firmung müssen wir in der theologischen Vision des Alkuin verstehen:
Der Firmpate legte als Zeichen seiner Unterstützung seine Hand auf die rechte Schulter des Firmlings - und zwar in dem Moment, als der Bischof dem Firmling einen angedeuteten Backenstreich gab als Symbol der Stärkung. Ein weniger bekannter Brauch im Rahmen der Firmzeremonie war ein Fußtritt durch den Paten, der wohl als Mittel zur `Gedächtnisstärkung´ zu deuten ist, damit im Fall eines größeren Backenstreichs der Firmling nicht zu Fall käme.
Den christlichen Kampf im Fränkischen Reich, im neuen Europa, sieht Alkuin auf dem Hintergrund des Annehmens eines Kämpfers zu den Männern als Beschützer des Stammes.
Von daher fällt auch ein neues Licht auf die auch im heutigen Europa wichtige Frage der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern.
Denn Taufe und Firmung demonstrieren seit Anfang an diese Gleichberechtigung.
Das zeigt auch eine Diskussion auf einem regionalen Konzil im Süden Galliens, das sich gegen einige Männer gewandt hat, die behaupteten, die Seele sei lediglich dem Mann eingehaucht worden. Es waren Mönche und die kirchliche Hierarchie, die die gleiche Würde von Mann und Frau verteidigt haben. Schon auf den ersten Seiten der Bibel lesen wir, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat.
Heute ist es üblich, dass für die Frauen der Staatsmänner bei offiziellen Besuchen ein caritativ-kulturelles Programm vorbereitet wird.
Heißt es, dass die Politik nichts Gemeinsames mit Kultur und Caritas hat?
Verstehen wir so wirklich die Bedeutung des Nachlasses Karls als Vater Europas?
So, wie der Firmling sein geistliches und moralisches Potential entfalten muss, richteten sich auch die Schritte Karls des Großen in die nächsten Jahrhunderte.
An sie knüpften nach dem Zweiten Weltkrieg auch die berühmten drei Väter der Europäischen Gemeinschaft an: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle und Alcide de Gasperi.
Wenn wir den Lebenslauf Karls des Großen lesen, erfahren wir, dass es große innere Kämpfe in dem nicht konsolidierten Europa gab, das nach und nach verwandelt und christianisiert wurde.
Das römische Reich war zerfallen aufgrund der Umsiedlung der Ethnien von Hunnen, Kelten, Germanen und Slawen.
Die Karolinische Renaissance hat eigentlich die Worte des heiligen Augustinus vollendet.
Als die anderen Bischöfe gerufen haben: „Augustinus, das ist das Ende der Welt“, hat er in der von den Vandalen eingekesselten Stadt Hippo geantwortet: „Brüder, dort, unter dem Wall, wird eine neue Welt geboren.“
Die soldatischen Züge Karls des Großen sind im Kontext der Zeit begreiflich und man sollte auf alle Anachronismen verzichten, mit denen Ideologen operieren, manchmal auch in Gestalt von Historikern.
Für diesen Herrscher gelten die Worte des Apostel Paulus, die wir in der Zweiten Lesung gehört haben: „Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein guter Baumeister den Grund gelegt: ein anderer baut darauf weiter.
Aber jeder soll darauf achten, wie er weiterbaut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1 Kor 3,10-11).
Die Bedeutung Karls des Großen für die Geschichte unseres Kontinentes zeigt sich auch in der Etymologie. Er wurde zum Prototyp des Herrschers; sein Name bezeichnet die Königswürde: auf Tschechisch král, auf Polnisch król, auf Ungarisch király, auf turkisch kral.
Wenn wir sagen, dass der Grund Europas die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war, dann werden die Mittel mit dem Ziel verwechselt. Der Streit um diese zwei strategisch wichtigen Stoffe war oft ein Grund für den Krieg, aber das Ziel Europas muss der Frieden sein.
Wenn wir heute Karl den Großen feiern, dann verneigen wir uns vor den geistlichen Wurzeln Europas, wir verneigen uns vor dem christlichen Glauben und den europäischen Werten, die daraus erwachsen sind - und nicht vor der fundamentalistischen Laizität und ihren neomarxistischen Helfern.
Zum Schluss erwähne ich die Worte Charles de Gaulles: „Die Geschichte Frankreichs beginnt mit Chlodwig, der zum König der Franken gewählt wurde. Entscheidend ist, dass Chlodwig der erste König war, der sich taufen ließ. Meine Erde ist eine christliche Erde und ich rechne die Geschichte der Franken seit dem Moment, als auf den Thron ein christlicher König stieg.“
Ich schließe mit den Worten, die wir aus dem Zweiten Korintherbrief gehört haben: „Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: das Werk eines jeden wird offenbar werden; ... Hält das, was er aufgebaut hat, stand, so empfängt er Lohn.“ (1 Kor 3,12 -14)
+Dominik kardinal Duka